Schwätze’mer schwabisch - auf deutsch

2022.03.16 19:17

 

Vorwort

 

 Nicht weil wir uns der Hoffnung hingaben, dass das altschwäbische Idiom unseres kleinen nordostungarischen Dorfes namens Rátka dadurch gerettet werden könnte, entschieden wir uns, ein Wörterbuch seiner Mundart zu widmen. Dadurch dass wir das dort gesprochene Schwäbisch aber schriftlich wiedergeben und gleichsam festhalten, kann es nicht ganz verloren gehen – davon sind wir überzeugt.

 Überdies fanden wir etwas ungerecht, dass wir hier, im Nordosten Ungarns, in Vergessenheit gerieten. Und so wollen wir mit dem vorliegenden Wörterbuch nicht zuletzt die Aufmerksamkeit der Sprachwissenschaft auf uns lenken. Wenn man auch bei der Untersuchung der Sprache den ungarischen Einfluss, was Satzbau, Lehnwörter, Hungarismen, Aussprache usw. betrifft, nicht verleugnen kann, hat sie in sprachwissenschaftlicher wie soziologischer Hinsicht einen nicht zu unterschätzenden Wert. Sie eröffnet uns nicht nur einen Einblick in den Zustand des Schwäbischen des 18ten Jahrhunderts, sondern eigentlich auch in den des damaligen Hochdeutschen. Spannende sprachwissenschaftliche Umstände und die, dank der Nähe des alemannischsprachigen Schwarzwaldes zu den schwäbischsprachigen Herkunftsorten in den Landkreisen Tuttlingen und Sigmaringen, merklichen alemannischen Eigenheiten verleihen dieser Mundart eine ganz spezielle Färbung. Aus dem Wortschatz können wir auch darauf schließen, wie unsere Vorfahren damals den Alltag meisterten, wovon sie lebten, welche Gegenstände sie dabei gebrauchten, welche Eigenschaften sie hochschätzten, welche Gefühle sie damit ausdrückten.

 Es erscheint bemerkenswert, sogar rührend, dass diese Mundart seit fast 300 Jahren in einer fremdsprachlichen Umgebung, selbst nach den katastrophalen Folgen des Zweiten Weltkriegs, die das Leben der deutschsprachigen Minderheit unter dem Zeichen kollektiver Anschuldigung prägten (im Falle von Rátka hieß das: Verschleppung nach Russland in die Zwangsarbeit), weit weg von der ursprünglichen Heimat, bewahrt wurde.

 Es ist sicherlich für jedermann einfach nachzuvollziehen, warum Dialekte es heutzutage generell schwierig haben. Wir bewegen uns freier, sind nicht mehr so ortsgebunden wie früher. Dafür brauchen wir „Hochsprachen“, damit Einheimische und „Neigschmeckte“ sich leichter verständigen können. Das erschwert die Bewahrung von Mundarten natürlich enorm. Besonders schwierig ist die Lage der Dialekte, die weit weg von der ehemaligen Heimat, in Ländern gesprochen werden, deren Nationalsprache mit dem jeweiligen Dialekt gar nichts Gemeinsames haben: so wie des Schwäbischen in Ungarn. In Ungarn gibt es zwar aus mehreren Siedlungen bestehende schwäbische Sprachinseln; was aber unser Untersuchungsobjekt betrifft, ist das nicht der Fall. Rátka liegt allein im Nordosten. Es gibt in der Nähe (40-50 km weit entfernt) zwei Siedlungen, die zur selben Zeit und im Rahmen derselben privaten Besiedlungsaktion des Habsburgischen Hofes mit Schwaben aus Baden-Württemberg besiedelt wurden, nämlich Hercegkút (Trautsondorf) und Károlyfalva (Karlsdorf), dort redet aber niemand mehr die Sprache. In Rátka spricht leider auch nur noch die älteste Generation Schwäbisch. Die Generationen mittleren Alters verstehen es zwar, reden es aber nicht; und die ganz Jungen kennen nur noch einige Gedichte und Sprüche.

 Im Laufe der dreieinhalb Jahre, in denen wir unsere Recherchen und Befragungen durchführten - zumeist in der Tagesstätte für alte Leute -, starb die Hälfte der befragten Personen! Sie waren alle über 80 und noch Mitglieder der Generation gewesen, deren Muttersprache Schwäbisch war und die erst in der Grundschule Ungarisch lernten.

 Die Zukunft? – Hat es denn heute noch einen Sinn in unserer nutzorientierten Welt, diese Sprache zu erlernen, die von deutschen Muttersprachlern zwar gewissermaßen verstanden wird, aber vom heutigen Schwäbischen stark abweicht, größtenteils veraltet wirkt und mit ungarischen Lehnwörtern angereichert ist? – Die Antwort fällt uns schwer. Uns beruhigt aber einigermaßen, dass wir dieses Wörterbuch endlich in der Hand halten, auch wenn sehr bald nur noch unsere DNA unser Schwäbisches Erbe bewahren wird.